Manchmal will man seine
Träume berühren. Nur um einmal zu spüren, wie sich etwas anfühlt, was hinter
dem Erreichbarem liegt. Jeder kennt das Geheimnis, die Antworten auf Fragen,
die die Menschen schon seit Jahrhunderten beschäftigen. Und doch liegt dieses
Wissen im Verborgenen. Man will seine Träume berühren, nur weil man
vielleicht auch weiß, dass diese niemals
in Erfüllung gehen können.
Sie hat das Leben geliebt.
Sie wusste Dinge zu schätzen, die andere Menschen in ihrem Alltagsstress
einfach nicht beachteten. Sie war dort dankbar, wo andere das Selbstverständliche
sahen. Sie hatte Träume, schillernd, in allen Farben. Unerreichbar, dachte sie.
Und doch war sie voller Hoffnung auf der Suche. Sie war auf der Suche nach Liebe. Und sie hat
sie gefunden.
***
Behutsam deckt sie ihre
Kinder zu und streicht ihnen noch einmal über den Kopf. Diesmal hat es nicht
lange gedauert, bis beide eingeschlafen sind.
Es ist eine anstrengende Reise und die Hälfte des Weges liegt noch vor
ihnen. Sie schaut sich in der kleinen Kajüte um und ihr fällt auf, wie wenig
Gepäck sie dabei hat. Aber sie will auch nicht lange bleiben. Es war nicht ihre
Idee gewesen, ihre Mutter zu besuchen, aber sie hat auch keine Kraft mehr, zu widersprechen.
Langsam geht sie zu ihrem Koffer und zieht ein seidenes Nachthemd hervor, berührt
mit ihren zierlichen Händen den kühlen Stoff. Dann beginnt sie, sich zu
erinnern…
Nach ihrem Studium reiste
sie umher und entdeckte die Welt. Sie wurde zu einer Genießerin. Die Menschen
liebten ihre charmante und höfliche Art. Sie selbst liebte es, am Strand
spazieren zu gehen und den warmen Sand zwischen den Zehen zu spüren. Abends zog
sie gerne durch die Städte und ließ die Nächte in kleinen, gemütlichen
Cocktailbars ausklingen. Oft versank sie in ihrer Gedankenwelt, auf der der
Suche nach etwas, was ihr in ihrer doch scheinbar perfekten Welt noch fehlte.
Sie spielte leidenschaftlich
gerne Klavier, liebte die Musik und sang hin und wieder Jazz vor versammelten
Menschen, die kamen, nur um sie zu hören. Faszinierend, wie man das Publikum
glücklich machen konnte, dachte sie. Und sich selbst. Sie brauchte nichts mehr
als eine Bühne, ein Mikrofon und ein Klavier. Dann stellte sie sich hin und
begann zu singen, sie schloss ihre Augen und versank in der Musik. Eines Abends sah sie ihn. Er saß da, mit
einem Drink in der Hand und lächelte sie an. An diesem Abend sang sie nur für
ihn. Als sie nach ihrem Auftritt vor ihm stand und begann, in seinen braunen
Augen zu versinken, stellte sie fest, wie naiv sie doch war, zu glauben, dass
so ein gutaussehender Mann von ihr mehr wollte als nur einen Flirt. Sie drehte
sich um, um zu gehen, als er sie an die Hand nahm und wortlos auf die
Tanzfläche führte.
Sie waren ein Traumpaar.
Freunde bestätigten das, ebenso wie ihre Familie. Nur seine Mutter hatte öfter
etwas zu meckern, aber das war ja hin und wieder so üblich. Mit ihm hat sie
gefunden, wonach sie sich all die Jahre insgeheim gesehnt hatte. Nun schien es,
als hätte sie fast alles, was sich eine junge, hübsche Frau wünschen konnte. Einen
Geliebten, einen Job, der sie vollkommen erfüllte, eine wunderbare Wohnung mit
Dachterrasse und herrlichem Ausblick über die Stadt. Einige Freundinnen, mit
denen sie gelegentlich abends durch die Straßen zog, kichernd, Arm in Arm. Geld
und Fantasie um mit ihrem Freund die Zukunft zu planen, und dennoch dem
Schicksal und der Spontanität freien Raum zu lassen. „Schau dich an, Darling,
du bist echt zu beneiden. Deine Haare, deine langen Beine, dein zuckersüßer
Mund und ein toller Mann, der das Glück hat, ihn küssen zu dürfen. Du kannst
dir alles leisten. Was will man mehr? Ich sag da nur eins: Nutz alles aus,
Schätzchen, genieß dein Leben.“ Ihre
Freundin gluckste und trank einen Schluck Cocktail. „Irgendwann ist es zu
spät.“
Tage vergingen, Monate und
Jahre. Und dann stellte er ihr die Frage und sie antwortete ohne zu zögern. Ja.
Eine Traumhochzeit in einer Traumwelt, wie es ihr vorkam, doch es war die
Wirklichkeit. Die Heirat fand auf einer exotischen Insel in der Karibik statt,
mit den engsten Freunde und der Familie. Sie war glücklich und liebte ihren
Mann aus vollstem Herzen. Irgendwann wurde sie schwanger und zwei Jahre nach
ihrem ersten Kind kam das Zweite. Sie zogen in ein kleines Haus am Strand und
nun saß sie gerne an warmen Sommerabenden draußen auf der Veranda und lauschte
den rauschenden Wellen. Die Kinder schliefen schon und dann kam ihr Mann dazu
und sie tranken ein Glas Rotwein und erinnerten sich gemeinsam an vergangene
Zeiten. Das Leben ist kostbar. Das stellte sie in Momenten, wie diesen, fest
und dann warf sie ihren Kopf in den Nacken, lachte herzlich auf und nippte an
ihrem Rotwein.
Doch irgendwann mussten sie
weg. Berufliche finanzielle und private Gründe trieben sie in ein anderes Land,
die Heimat ihres Mannes. Ihm wurde Abwechslung und bessere Bezahlung versprochen.
„Eine fremdes Land, eine fremde Stadt und eine fremde Sprache…was soll ich nur
tun?“ „Wie aufregend! Mach dir doch
nicht solche Sorgen, Darling! Es ist wichtig, seine Perspektiven zu ändern und
immer wieder neues auszuprobieren. Wer weiß, wohin dich das bringt?“ „Ja, aber…“
„Nichts aber. Du hast doch deine Familie. Und die Musik. Da braucht man kein
Wörterbuch, Musik versteht jeder. Außerdem findest du bestimmt viele Freunde.“
Es war das letzte Treffen mit ihrer Freundin. „Nur tu mir bitte einen Gefallen
und vergiss deine beste Freundin nicht.“, sagte sie schmunzelnd am Schluss.
Einige Monate sind seitdem
vergangen. Doch die Sehnsucht blieb und ist nie verschwunden. Niemals. Sie fing
an Klavier zu spielen und zu singen, in dem Hotel, welches ihr Mann leitete.
Hin und wieder verhalf ihr dies, die vielen grauen Tage zu überstehen. Ihre
Kinder waren die einzige Freude in ihrem Leben.
Sie suchte Kontakt zu anderen Menschen, doch diese hatten andere
Gewohnheiten und waren anders als sie. Hinter ihrem Rücken sprachen sie über
die junge, eingebildete, viel zu feine Dame. Ihre Schüchternheit und
Unsicherheit deuteten viele als Überheblichkeit. Und irgendwann begannen diese
Menschen sich nicht einmal mehr die Mühe zu machen, heimlich über sie zu lästern,
sondern fingen an, über sie herzuziehen, direkt in ihrer Anwesenheit. Meistens
waren es neidische Frauen, deren Männer
ihr oft einen Blick hinterherwarfen. Sie war anders und die Männer
liebten Abwechslung und Veränderung, etwas Sehenswertes in einem meist
langweiligen Alltag. Sie war ein bunter Paradiesvogel in einer grauen Welt. Sie
war anders und wurde dafür gehasst. Ihre finanzielle Lage hatte sich gebessert
und da ihrem Mann auffiel, wie schlecht es seiner Frau ging, beschenkte er sie
mit Schmuck und Kleidern. Er liebte sie über alles und nahm sich so oft wie
möglich Zeit, um sie mit ihr zu verbringen. Doch leider beachtete sie dies selten
und hatte nur Augen für schlechte Dinge. Kaum hatte sie ein Ziel erreicht,
plagte sie die Unzufriedenheit. Sie lebte in der Vergangenheit, indem sie ihrem
alten, schönen Leben nachtrauerte und sie lebte in der Zukunft, mit den
Gedanken, wie sie an Erfüllung und Zufriedenheit gelangen könnte. Nur eines
vergaß sie in all dem Leid: Jetzt zu leben. Hin und wieder jedoch fühlte sie
das Glück. Wenn sie mit ihrer Familie reiste, in exotische Länder und abends an
Strand saß, mit ihrem Mann. Wenn sie in einer klaren Nacht die Sterne
beobachtete. Wenn sie an einem verregneten Sommertag nach draußen ging und den
Regenschirm zugeklappt ließ, absichtlich, nur um die warmen Regentropfen auf ihrer
Haut zu spüren. Wenn sie sang und die Musik in ihrem ganzen Körper fühlen
konnte. Doch schnell, viel zu schnell holte der Alltag sie ein, mit seinem Grau
und sie fühlte sich alleine mit ihren Gedanken, alleine mit sich selbst,
unverstanden.
In einem kalten Winter lud
ihr Mann einige langjährige Geschäftspartner zu einem Weihnachtsfest im Saal des
Hotels ein. Auf deren Bitte hin spielte sie das Lieblingsstück ihres Mannes auf
dem Flügel. Es war das letzte Stück, das sie spielte. Niemand wusste,
dass sie nie wieder die Tasten des Flügels berühren würde.
Und nach außen hin lächelte
sie, doch innerlich zerbrach sie immer mehr, Tag für Tag. Alpträume verfolgten
sie und sie saß nachts oft im Schlafzimmer vor dem Fenster und weinte. Sie
hatte Angst und wusste nicht mehr weiter. Sie hatte das Gefühl, nutzlos zu sein.
Sie lebte nicht mehr, schon lange nicht. Ihr Mann war in letzter Zeit oft auf Geschäftsreisen,
die Kinder waren traurig, wenn das Kindermädchen nachmittags ging und sie
fühlte sich immer mehr in den Gedanken bestätigt, dass sie nichts mehr in
dieser Welt hielt. Sie war eine Last. Was ist nur aus ihrem Leben geworden? Sie
wusste es nicht. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wann sie das letzte Mal
aus vollstem Herzen lachte. Vergeblich.
Sie drängte sich durch die
Menschenmenge, vorbei an Boutiquen und Wolkenkratzern. Es herrschte viel
Verkehr und die Menschen gingen ihren Weg, geradeaus, mit starrem Blick, Geschäftsmänner,
in teuren Anzügen und mit schweren Aktenkoffern. Eine Frau zerrte ein kleines
Mädchen hinter sich her, ungeduldig, voller Anspannung. Das Mädchen lächelte
sie an. Sie blieb vor einem Schaufenster stehen und betrachtete ihr verzerrtes
Spiegelbild. So viele Menschen und doch war sie allein. Was hat ihre Freundin gesagt?
Irgendwann ist es zu spät. Sie fühlte eher das Gegenteil. Die Menschen wollten
die Zeit beherrschen, zeitlos. Sie empfand eine Schnelligkeit, ihr Leben lief
an ihr vorbei, perfekt, reibungslos, zu schnell. Und alles viel zu früh.
***
Erst jetzt bemerkt sie, dass
Tränen ihre Wangen herunterlaufen. Schluchzend trocknet sie sie mit dem
Nachthemd ab, zieht sich aus und streift es sich über. Dann schlüpft sie barfuß
in ihre roten Schuhe. Sie wirft einen Blick auf ihre schlafenden Kinder, bevor
sie die Tür öffnet und sich hinaus schleicht. Sie geht aufs Deck. Der kühle
Wind trocknet ihre Tränen. Die Nacht ist klar. Sie legt den Kopf in den Nacken
und beobachtet die Sterne. Jeder ist auf der Suche. Nach sich selbst, nach dem
Glück, der Liebe. Auf der Suche nach der Erkenntnis. Diese Suche erfüllt ein
ganzes Leben, bis man zu einem Moment kommt, an dem man die Erfüllung spüren
kann, in der Tiefe der Hoffnungen und Wünsche. Die Fähre schaukelt hin und her
und hohe Wellen peitschen gegen das Schiff. Sie atmet die Luft ein, gierig und
schnell. Was gibt es in ihrem Leben noch
zu erreichen? Perfekt ist ihr Leben gewesen. Zu perfekt. Zu schnell hat sie
bekommen, wonach sich andere ein ganzes Leben lang sehnen. Manche Momente sind
zeitlos, weit und ohne Grenzen. Genauso wie die Liebe, die sie in diesem Moment
erfüllte. Die Liebe zu ihrem Mann, zu ihren Kindern. Unwillkürlich musste sie
lächeln, nur für einen kurzen Augenblick. Niemals würde sie vergessen, dass man manche Dinge, viele Dinge
aus Liebe macht, unkontrolliert und doch bewusst. Langsam zieht sie ihre Schuhe
aus. Bleibt stehen und schließt kurz die Augen. Klettert über die Reling und -
springt.
Am frühen Morgen findet ein
Mann ein Paar rote Schuhe. Er beachtet sie nicht weiter, bis er erfährt, dass
eine Passagierin fehlt.
***
Manchmal will man seine Träume berühren. Nur um die
Sehnsucht zu spüren, welche in ihnen liegt. Die Sehnsucht nach Liebe und
Geborgenheit, nach Leidenschaft und Verlangen, Glück und Gerechtigkeit. Die
Sehnsucht nach dem Leben selbst. Manchmal will man seine Träume berühren, um
sich zu vergewissern, um sich wirklich sicher zu sein, das man welche hat.
Vaida....Du hast in ihre Seele geschaut
AntwortenLöschenJa...ich habe es versucht <3
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